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Aus dem Fenster hinausdenken - ein Essay

 

Es gibt so Vieles, was mich als Neuling in der Architekturbranche verwundert.

 

Fenster zum Beispiel. Sie scheinen fast so etwas wie „gott-gegeben“ zu sein, zumindest dann, wenn ich mir aktuelle Wettbewerbe und die dabei ausgezeichneten Häuser anschaue. Eine ernsthafte Alternative zu immer mehr Glasfläche mit immer teureren Fenstern scheint in weiter Ferne.

 

Warum lohnt es sich, sich mit Fenster-Alternativen zu beschäftigen? Zum Einen ist der Fenstermarkt  wirtschaftlich gesehen riesig. Er verzeichnete in den letzten 10 Jahren eine nahezu lineare Nachfrage-Steigerung und die Branche erwartet auch in Zukunft steigende Fensterpreise. Schön für die FensterHerstellenden, weniger schön für die HäusleBauenden.

 

Aktuell ist das Thema zum Anderen auch, denn es gibt eine neue europaweite Norm (EN 17037). Die schlägt vor, dass Fensterflächen völlig anders als bisher berechnet werden. Knapp gesagt: früher gab es eine bestimmte Ratio Fensterfläche zur Grundfläche, heute ist es komplizierter geworden, weil lokale Ganzjahres-Klimaergebnisse in die Berechnung der Fenster einbezogen werden sollen. Über den Daumen gepeilt verdoppelt (!) sich die notwendige Fensterfläche mit der neuen Norm bei Neubau und Renovierung.

 

Weltweit arbeiten Fensterherstellende intensiv daran, dass Fenster an sich (samt Rahmen und Glas) immer besser werden. Zusammenhängende Fensterflächen werden immer größer, Wärme- und Sichtschutz werden immer optimierter und nicht zuletzt werden Fenster selbst immer smarter oder intelligent in smarte Gebäudesysteme eingebunden. Das ist sehr spannend zu sehen und wer mehr wissen möchte, klickt zum Beispiel hier zum Gucken oder hier zum Lesen.

 

ABER: abgesehen davon, dass viele smarte Lösungen in realiter nur begrenzt wie gewünscht funktionieren und zudem störanfällig sind, sind die entwickelten immer schöneren besseren größeren Fenster leider auch immer teurer. Mich interessiert, welche Alternativen zu heutigen Fenstern es gibt.

Ich wünsche mir Wahlmöglichkeiten für HäusleBauende und ArchitekturSchaffende. Ich wünsche mir, dass unser eingangs erwähntes wie gott-gebendes Weltbild über Fenster erweitert wird.

 

Bezogen auf die Gesellschaft an sich hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) eine interessante Metapher genutzt, um „Weltbilder“ von Menschen zu beschreiben. Mit „Weltbild“ meint er grob gesagt all die persönlichen Überzeugungen, die jede(r) als gegeben oder selbstverständlich annimmt und die unser Handeln bestimmen. Wir zweifeln bestimmte Tatsachen nicht an und hinterfragen sie nicht: „die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel berufen darauf, dass gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen […]. Wenn ich will, dass die Tür [oder das Fenster, Anm. JJ] sich drehe, müssen die Angeln feststehen.“ [aus „Über Gewissheit“ ÜG §§341-343]

 

Wobei die Angeln von Fenstern im Übrigen gar nicht immer festgestanden haben, wie wir feststellen, wenn wir nun im Folgenden einen kurzen Ausflug in die internationale Geschichte der Fensterentwicklung unternehmen.

 

„Wind-Auge“ haben die alten Germanen die Wand-Öffnungen genannt, die es als Rauchöffnungen in den oberen Bereichen der Räume gab. Hieraus leitet sich übrigens das englische Wort „windows“ für Fenster ab. Die alten Römer haben dann im 1.Jahrhundert schon eine Art Glasfenster nach Europa gebracht, womit sie das Leben ihrer Soldaten in privaten wie militärischen Gebäuden bequemer machten. Kaum war die römische Belagerung vorbei, war es allerdings auch mit den Fenstergläsern vorbei. Es dauerte unglaubliche 1.500 (!) Jahre, bis Glasfenster wieder bei privaten Bauten üblich wurden (im Mittelalter gab es Fenster, die allerdings kirchlichen Bauten vorbehalten waren). Bis dahin hatten die Menschen entweder keine Fenster gebraucht, weil ihre Bauten primär nur nächtlichen Schutz bieten sollten, oder sie hatten ihre Wandöffnungen mit Holzläden oder ähnlichem manuell gesichert.


Überliefert ist auch, dass zum Beispiel in mittelalterlichen Burgen ganze Zimmer als Fenster-Nischen (ohne Glas natürlich) genutzt wurden, wobei die einzelnen Wandöffnungen relativ klein und vor allem vor Feinden geschützt in höheren Stockwerken lagen.

 



Anders als in Europa hat das alte Japan Fenster nicht als „Loch-in-Wand“ verstanden. Das japanische Wort „ma“ bedeutet hingegen so viel wie „Platz zwischen Objekten“. Tatsächlich wurden einfach Öffnungen, die zwischen Säulen und Balken lagen, als Fenster genutzt. Manchmal wurden diese aus Sicht- oder Wetterschutzgründen mit Shōji aus Papier oder Leinen abgedeckt.

 

 

Mit der Erfindung der Teehäuser in der sogenannten ersten Moderne (ca. 1.500 n.Chr.) setzte dann eine regelrechte Flut von Fenster-Erfindungen ein. Abgekupfert aus dem alten China wurden Fenster zum Beispiel als reine Dekorationselemente genutzt und mit Ornamenten, die Glück bringen sollten, versehen. Oder ganze Wände wurden bewusst nicht zu Ende gebaut, um Sichtachsen zu bieten. Auch gab es erstmals die Idee eines „Schuhbox-Hauses“, d.h. dass Fenster als Wandöffnungen nur dann sichtbar und nutzbar wurden, wenn Holzverschläge oder ähnliches manuell geöffnet wurden.

 

Auch heute fasziniert mich in Teilen noch, was das alte Japan an Fenster-Ideen mit sich gebracht hat. Die Bewohnenden der alten nagaya Häuser in Osaka beispielsweise leben heute noch fenster-technisch mit den Jahreszeiten. In den wärmeren Monaten werden leicht entfernbare Wand-Teile, die im Winter die Kälte draußen halten gegen Fenster-Elemente ausgetauscht, die im Sommer die Sonne reinlassen.


In bayrischen Bauernhäusern war es ebenfalls bis mindestens Anfang der 1980er üblich, in der kalten Jahreszeit von November bis Mai vor die eigentlichen Fenster jeweils ein zweites davor zur Wärmeisolierung von außen in die Fassade einzuhängen, wie dieser -unglaublich subjektive, vermutlich auch gerade deshalb unglaublich sehenswerte- Film aus 1979 beweist.

 

Kurz resümiert: das reine Vorhandensein von Technik (z.B. Glasfenster bereits im 1. Jhd.) bedeutete nicht zwingend auch deren Nutzung. Andererseits gab es immer schon kreative Lösungen in Bezug auf Öffnungen, Licht, Luft und Schutz.

 

Abschließen möchte ich diesen zum Nach-Denken anregenden Essay über Fenster mit den (wenig vorhandenen) Ergebnissen meiner Recherche zu möglichen Fenster-Alternativen.

 

Ein extremes Beispiel könnte ein Haus ohne jedes Fenster sein. Realistische Illusionsmalerei oder Scheinarchitektur sind spätestens seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Gerade in verdichteter Bauweise, wo der Blick aus den Fenstern auf unschöne oder zu nahe Nachbarbebauung fallen würde, mag so eine Lösung denkbar sein. In moderner Form könnte es heute zum Beispiel ein Haus mit automatisierter Belüftung geben, wobei das menschliche Bedürfnis nach Licht und Aus-Blick (so es solch ein Bedürfnis gibt) über neue Arten der Tapeten oder Panels abgedeckt wird, die beispielsweise mit LED bestückt sind und Fenster und Licht zumindest optisch simulieren können. Schöne Beispiel dafür finden sich hier.


 

Ein anderes Extrembeispiel, aber auf dem anderen Ende der Skala, könnte ein vollkommen transparentes Gebäude sein, das allerdings nicht aus Glas (wie z.B. heute viele Hochhäuser), sondern vollständig aus durchsichtigem (!) Holz gebaut ist. Tatsächlich gibt es das durchsichtige Holz schon, das gegenüber Glas enorme Vorteile in Bezug auf Kälte- und Wärmedurchlässigkeit sowie Blendschutz aufweist. Bis zur Baureife ist es noch ein langer Forschungsweg, aber die Denkrichtung ist interessant. Mehr Informationen dazu gibt es hier und hier.


(Einschub: es wird übrigens auch an völlig transparenten Solarpanels gearbeitet, die ebenfalls irgendwann als Fassade genutzt werden sollen. Ich sag ja, wir leben in spannenden Zeiten voller Innovationen, auch architektonisch gesehen)

 

Die schon (sehr wenigen) gebauten Häuser, die Alternativen zu dem klassischen Fenster in einer Wand nutzen, möchte ich Euch natürlich nicht vorenthalten:

 

In Kanada hat eine Familie ein Haus unterirdisch in einen Hügel gebaut, um die Wärme des Berges zu nutzen. Belichtet werden alle Räume über Oberlichter. Ich bin fasziniert davon, WIE hell die Räume sind, denn natürlicherweise kommt direkt von oben mehr Sonne in einen Raum als von der Seite. Die Idee der verglasten oder unverglasten Opaia, also Öffnungen in Dachkuppeln ist nicht neu, wie nicht nur im Pantheon in Rom zu sehen ist. Aber hier sehr modern und wohnlich umgesetzt: Underground dome house of the family who led geese to fly home


Ein nachhaltiges Bürogebäude, das sich auch als alternative Antwort auf immer mehr und immer komplexere Glasfassenden versteht, wird derzeit in Belgien geplant. Ein neuartiger Grundriss, der zum Beispiel Terrassen und weitere Freiflächen stärker in das Gebäude einbindet, um mehr Tageslicht zu erhalten, zeichnet das Haus genauso aus wie seinen Willen zur low-tech-Bauweise. Auf den Bau und dann die Nutzungserfahrungen bin ich sehr gespannt: Low-Tech-Offices in Kortriik. Belgium/ C+S architects.


Wenn Ihr nach dem Lesen dieses Essays demnächst beim Fenster-Öffnen kurz innehaltet, Euer „Weltbild“ der feststehenden Angeln kurz reflektiert und ebenso kurz darüber nachdenkt, was Euch alternativ zu Fenstern und deren Nutzung einfällt, dann hat sich das Schreiben für mich gelohnt. Wie immer, freue ich mich sehr über Euer Feedback und natürlich über Beispiele der Fensteralternativen, die Ihr vielleicht schon kennt und teilen mögt!

 


Quellen & Weiterführendes:

Sehr fundierte Infos zur Geschichte des Fensters in Deutschland


Japan Windowolgy (viele gehaltvolle Kurzvideos zu verschiedenen Aspekten rund ums Fenster, Architektur und Philosophie) 

Außerdem hier: https://madoken.jp/en/research/window-sociology/3441/


Möchtet Ihr Algen in Euren Fenstern haben, die dieses je nach Sonnenstand durch ihre natureigenen Organismen verdunkeln? Ich bin mir nicht sicher, interessant sieht es aber jedenfalls aus.


Übrigens wird auch schon seit längerem an durchscheinendem Beton (und nicht nur an völlig durchsichtigem Holz wie oben erwähnt) gearbeitet. Das möchte ich Euch nicht vorenthalten, auch, wenn da der Weg noch lang und vor allem teuer ist.


Wer Lust hat, zu lesen, was ein Architekt bereits 1899 über die Fenster seiner Zeit bemängelte, kann das hier tun. Mich hat es zum Schmunzeln und zum Nachdenken gebracht.


Think out of the...WINDOW


While diving deeper into architecture I realise that there are some areas that appear to be “god given“ that only a few dare to question.

 

Take WINDOWS for example. In today‘s architecture they are celebrated as the light-giving, view-opening and ventilation-enabling – and yet not that much more beyond that. Why don’t we have alternatives to windows? Of course, they come in different shapes and sizes, but in the end all we are left with is a plain (or fancy) window. End of story.

 

Today‘s economic market for windows is huge, the increase in demand as well as in costs has risen dramatically in the last 10 years. Window construction companies all over the world invent new ways to make windows bigger, more energy sustainable or even digitally smarter. And, you guessed it: that also means making windows more cost-intensive.

 

A new European guideline sheds new light on windows (if you pardon the pun). The so-called EN 17037 was introduced in March 2019 and aims to replace out-dated building regulations for windows in various countries. Its key take-away is that the new standard mostly leads to a doubling of the window area.

The idea is to offer nice and open-space rooms for users. Therefore the new guideline not only refers to the amount of window areas, but also to the exterior views, which need to be clear, unobstructed, and naturally coloured. Also, building occupants shall have a certain degree of access to daylight depending on where they stay indoors (e.g., imagine a desk in a huge open plan office) and as little glare provision as possible.

 

So, what could alternatives to windows look like? Before I love to share some of the – albeit very rare – innovative examples I found during my research, let’s have a quick look at the past.

There is an interesting fact about windows if you go back in history. The ancient Romans already invented and implemented glass windows in their buildings and brought this to Europe during occupation in the 1st century AD. But the interest of the local population was as low as their demand. People either did not need windows because the structures of their houses were primarily meant to provide night-time shelter, or they had manually secured their wall openings with wooden shutters or similar. So it took over 1.500 years (!) until glass windows were finally used again in residential buildings (in medieval times glass was reserved for church buildings). It is also known that in medieval castles, for example, entire rooms were used as window niches (without glass, of course), whereby the individual wall openings were relatively small and, above all, protected from enemies on higher floors.

In ancient Japan there was a completely different approach to windows. The Japanese word “ma” does not refer to a hole in a wall as it did in Europe, but rather means “space between objects”. Until medieval times Japanese just used openings between existing columns and beams, sometimes covered with shojis. With the invention of the tea houses in the early modern period (15th century AD), there were also developments with regards to windows. Also used in ancient China, big round windows were used as decorative elements. On top of this, for the first time, there was the idea of a "shoebox house", i.e. windows as wall openings only became visible and usable when wooden shutters or similar were opened manually.

 

Even today, I am still fascinated by the concept of windows in ancient Japan. The inhabitants of the old nagaya houses in Osaka, for example, still live with the seasons in terms of windows Wall sections can easily be changed depending on the weather: sections that keep out the cold are used in winter whereas window elements that let in the sun are installed in summer.

To sum up: the mere existence of technology (e.g. stained glass windows as early as the 1st century) did not necessarily mean they were used. On the other hand, there have always been creative solutions in terms of openings, light, air and protection.

 

I would like to conclude this essay on windows that is meant to think out of the (common windows) box with a – few – examples  of possible window alternatives gleaned from my research.

 

An extreme example could be a house without any windows. Realistic illusionary painting or mock architecture have been known since the 14th century at the latest. Especially in dense construction areas, where the view from the windows would fall on unsightly or too close neighbouring buildings, such a solution might be conceivable. Translated into today’s technology, there could be, for example, a house with automated ventilation, whereby the human need for light and a view out (if there is such a need) is covered by new types of wallpaper or panels that are, for example, equipped with LEDs and can simulate windows and light, at least optically.

 

Another extreme example, but at the other end of the scale, could be a completely transparent building, but not made of glass (like many skyscrapers today, for example), but built entirely of transparent (!) wood. In fact, transparent wood already exists and has enormous advantages over glass in terms of cold and heat permeability as well as glare protection. There is still a long way to go before it is ready for construction, but the direction of thought is interesting. More information is available here and here.


By the way, work is already underway on completely transparent solar panels, which will also be used as a façade at some point. Also from an architectural point of view, I would say that we are indeed living in exciting times full of innovations. 

 

There are also already (very few) houses built that use alternatives to the classic window in a wall.

 

In Canada, a family has built a house underground in a hill in order to use the heat of the mountain. All the rooms are lit via skylights. I am fascinated by HOW bright the rooms are, because naturally more sun comes into a room directly from above than from the side. The idea of glazed or unglazed opaia, i.e. openings in roof domes, is not new, as can be seen (amongst others) in the Pantheon in Rome. But here it has been implemented in a very modern and homely way:

Underground dome house of the family who led geese to fly home.


 

A sustainable office building that also sees itself as an alternative answer to more and more complex glass facades is currently being planned in Belgium. This presents a new type of floor plan that integrates terraces and other open spaces more strongly into the building in order to obtain more daylight, distinguishing the building just as much as its desire for low-tech construction. I am very curious about the construction and also about the experience of use.

 

What do you think about alternatives to windows? Do you know about any? Do you have innovative ideas? Do you want to share some examples you have already seen? I would love to get in contact with you!

 

Further Reading:

Many entertaining short videos on various aspects of windows, architecture and philosophy: Japan Windowology

(also here).

 

Would you like to have algae in your windows that darken your room depending on the position of the sun through their own natural organisms? I'm not sure, but it certainly looks interesting.

 

By the way, translucent (!) concrete (not the completely transparent wood as mentioned above) has been in the works for quite some time now – though the road is still long and, above all, expensive.