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Zum leichteren Lesen:
Poiesis architekturJJ 2021.pdf
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Rein Praktisches - oder: Architektur & Poiesis 

Heute bin ich aufgewacht mit dem schönen Impuls, genau das tun zu wollen, was tatsächlich noch eine Lücke (!) im Internet darstellt. Kennt Ihr dieses fast unbeschreibliche Gefühl, einen Suchbegriff einzugeben, auf den es noch KEINE einzige Antwort gibt? Kein Video, kein Bild, kein irgendetwas.[1] Das mutet fast nach guter alter Goldgrabe-Stimmung an.

Jedenfalls: so herrlich fühle ich mich rund um diesen neuen Blog. Denn, ein Ü40-Mensch, der erst noch Architektur studieren und auch darüber schreiben möchte, scheint es sehr selten zu geben. Ich kenne außer mir niemand in realiter und bin auch online nicht fündig geworden. Dabei spricht doch für ein Studium im „fortgeschrittenen“ Lebensabschnitt zum Beispiel die Möglichkeit, das neu zu Lernende direkt mit schon erfahrenem Lebens-Wissen, was ich nach dem Abitur noch gar nicht haben konnte, verbinden zu können.

Aus- (und leider Ein-) Blick von der Toilette aus

Um es konkret zu machen: im Urlaub sitze ich im Fewo-Bad auf der Toilette und schaue entspannt auf die Berge in der Ferne aus dem großen Panoramafenster, das DIREKT rechts neben mir ist. Leider schaut in diesem Moment ein wildfremder Nachbar von der Straße her -ebenfalls sehr entspannt- hoch direkt auf mein Fenster und in das Bad. Ergo, meine Entspannung ist hin, meine Privatsphäre auch. Eine Frage schießt sofort in meinen Kopf: was spricht denn dagegen, das angrenzende Waschbecken anstelle des Stillen Örtchens direkt am Fenster einzuplanen? So wenig Planungsaufwand für so viel mehr Lebensqualität![2]

Diese Art der Fehlplanung findet sich auch in den modernen Schuhkarton-Bauten, die seit Jahren dicht an dicht in den Großstädten aus dem Boden schießen. Die Liste der nicht-praktikablen Sachen in Wohngebäuden wirkt auf mich schier endlos: kaum nutzbare Balkone im schattigen Norden eines Hauses, die nicht grundstücksbedingt sind. Laute Bad- und Küchenabflussrohre der nachbarlichen Wohnung direkt an der eigenen Schlafzimmerwand, wo die Räume doch im Neubau leicht anders positioniert werden könnten. Verschenkter Stau- und Wohnraum durch ungünstig platzierte Türen und Wände, die höchstens mittels teurer Einbauten genutzt werden könnten. Fällt Euch noch mehr ein? Ich freue mich auf weitere Beispiele.

Die Architektur, die noch nur in meinem Kopf rumschwirrt und die -hoffentlich- eines Tages auch gebaut werden wird, ist dagegen -auch aus obigen Erfahrungen heraus- eine recht „Praktische“. Ich meine damit im Übrigen weder ästhetische Feinheiten noch individuell unterschiedliche Vor-Lieben, die für jeden Menschen anders ausgestaltet sein mögen und die sich auch gesellschaftlich im Zeitverlauf ändern. Ich meine damit Basales und Notwendiges für j e d e n bewohnenden Menschen. Zumindest in unserer Hemisphäre.[3]

Laut des Duden ist Praktisches „sich besonders gut für einen bestimmten Zweck eignend; sehr nützlich; zweckmäßig.“ Etymologisch gesehen ist es das auf das Handeln gerichtete. Auf ArchitekturJJ.de mag ich es als das „auf das Wohnen gerichtete“ verstehen. Auf das gute Wohnen notabene, womit ich recht schnell bei etwas bin, was ich unter Anderem an Lebens-Wissen für die Architektur und für diesen Blog mitbringe: zumindest einen Hauch an Praktischer Philosophie. Genauer gesagt an „poietischer Philosophie“.

In diese „Poiesis“ (altgriechisch ποιέω: machen) habe ich mich ja offen gestanden ein klein wenig verguckt (was auch an dem einzig guten „Lehrbuch“ dazu liegen könnte, es scheint mit sehr viel Engagement geschrieben zu sein).[4] Key Facts, wer hat’s erfunden? Die in Griechenland natürlich. Also zumindest erstmalig aufgeschrieben haben es wohl Platon und Aristoteles, wobei Letzterer mehr mit dem Begriff in Verbindung gebracht wird.[5] 

Aristoteles unterscheidet in seiner Philosophie die „Theorie“ (Betrachtungsgegenstand sui generis = „das Dasein“ i.w.S.), die „Praxis“ (Betrachtungsgegenstand grob gesagt alles „subjektiv vom Menschen Gemachte“) und eben die „Poiesis“, welche den Prozess der Praxis darstellt.[6] Poiesis hat immer etwas mit Bewegung zu tun. Es ist die Ermöglichung von Möglichkeiten aus dem Nicht-Sein in ein Sein. Ich finde das wunderschön formuliert, hatte aber auch zunächst ein „Hä? What?“ auf den Lippen.

 

Bezogen auf die Architektur habe ich nirgendwo eine gescheite Erklärung gefunden und möchte diese Forschungslücke im kleinsten Maßstab anfangen zu schließen:

Als Architekt habe ich eine Vorstellung oder eine Möglichkeit eines Gebäudes im Kopf. Mit dem Entwerfen „entdecke“ ich sozusagen meine bislang im Nicht-Sein vorhandenen Möglichkeiten (sie sind ja nur virtuell in meinem Kopf) und transferiere sie in ein „Sein“, ergo: ich entwerfe, damit auch wirklich etwas gebaut wird.

„Der Plan ermöglicht das Vorwegsein beim Fertigsein sowie die Bewegung als dem notwendigen Weg dorthin. Das Denken ist dabei die Weise der Ermöglichung und des Durchlaufens des Gefüges der möglichen und notwendigen Faktoren. Die Vorbereitung der Zukunft – und ebenso die Nachbereitung der Vergangenheit – strebt nach dem Fertigwerden mit dem Ziel des Bereitstehens. Im Planen und Entwerfen, in der rationalen Ermöglichung, nähert das Mögliche ich uns und nähern wir uns zugleich ihm in einer Gegenbewegung und einem Entgegenkommen an. […] Der Plan ist das gemachte Bild der Zukunft“,

formuliert es Cürsgen so schön und prägnant philosophisch (leider ohne auf Architektur Bezug zu nehmen, S. 203).

Das Denken ist Poiesis, das Entwerfen ist Poiesis und die „Baukunst“ ist ebenfalls Poiesis, wie Aristoteles explizit anmerkt. Das Unterscheidende zur „Praxis“ seiner Philosophie ist die Zweckorientierung: bei poietischem Handeln gibt es immer (!) einen von außen vorliegenden Zweck[7] Ich entwerfe und baue nur deshalb, um einen Gegenstand, sprich Gebäude, herzustellen, der dann wiederum ohne meine Poiesis weiter existiert. Für meine Architektur-Poiesis benötige ich Materie, aus nichts kommt nichts. Bauwerkstoffe beispielsweise konkretisieren erst die poietische Bewegung.[8]

Was hat das jetzt alles mit dem eingangs erwähnten praktischen (!) Problem des „Stillen Örtchens“ zu tun? Es wird deutlich, wenn ich einen besser passenden Ausdruck verwende, den des Pragmatismus. In dieser im 19. Jahrhundert entstandenen philosophischen Denkrichtung steht der praktische Nutzen oder Erfolg im Mittelpunkt menschlichen Handelns. Pragmatisch-poietischer Erfolg wäre bei der Toiletten-Architektur demnach, wenn das Entwerfen/ Planen/ Bauen so konzipiert worden wäre, dass mein Glück als Einzelner erreicht würde: ich also die STILLE des Privatsphäre-respektierenden Raumes „beim Geschäft“ genießen könnte. Praktisch, pragmatisch oder poietisch möchte ich diesen kurzen Essay deshalb mit einem -humorvoll gemeinten- Imperativ schließen:


 Plant doch verdammt noch mal das Klo nicht direkt am leicht einsehbaren Riesen-Fenster ein! :)

Oder wie seht Ihr das? Ich freue mich auf Euer Feedback!



GrundLegendes und WeiterFührendes: F. Buddensiek: Die Theorie des Glücks in Aristoteles‘ Eudemischer Ethik (1999), D. Cürsgen: Phänomenologie der Poiesis (2012),T. Ebert: Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1976, Bd. 30, H. 1, S. 12-30 (wie gesagt, es gibt wenig über die Poiesis in der aktuellen Philosophie).


[1] Wer es ausprobieren möchte, etwas off topic: einfach mal „Wohlstandsspiel“ bei YouTube eingeben…passiert NÜSCHT (Stand 25.08.2020). Wer wissen möchte, was genau das ist, bitte den Begriff auf Englisch suchen.

[2] Spannendes zum „Stillen Örtchen“: B. Möllring: „Toiletten und Urinale für Frauen und Männer“ (2003).

[3] Es kann auch Menschen geben, die eine von außen leicht einsehbare Toilette nicht als praktisches Problem verstehen. Meine Lieblings-Erstlese-Person kommentierte: „also ich gucke „beim Geschäft“ gern aus dem Fenster“. Okay, point taken (ginge übrigens auch 60cm weiter neben einem von-außen-sichtschützenden-Waschbecken, aber ok). Dass der Großteil der Menschen eine Privatsphäre auf dem deshalb auch so genannten Stillen Örtchen bevorzugt, davon gehe ich aus. Bei der einzigen thematisch passenden Studie (aus 2017), die ich gefunden habe, geben die meisten Befragten an, dass mangelnde Privatsphäre Hauptursache für -sagen wir mal- VerdauungsVorgangsProbleme sei (https://www.healthline.com/health/american-gut-check, abgerufen 25.08.2020).

[4] Für Philosophie-Interessierte: D. Cürsgen: „Phänomenologie der Poiesis“ (2012).

[5] „Mehr“ ist nur relativ zu verstehen, da der Begriff der Poiesis in der Philosophie sowohl im Studium als auch darüberhinausgehend selten genutzt wird.

[6] Dies ist sehr (!) vereinfacht formuliert. In meinem Blog geht es ums Bauen, nicht um die (Un-)Tiefen der Philosophie. Gute Literatur zum besseren Verständnis: C. Rapp: Aristoteles – zur Einführung (2020).

[7] Das sagt er in seiner „Eudemischen Ethik“ im Buch V, Kapitel 6, Zeile 1140 b 6-7.

[8] Während Technik immer Materie benötigt, kann Poiesis in anderen Teilbereichen auch rein ideeller Natur sein. Das erschließt sich schon daraus, dass sie wie erwähnt auch das Denken ist.





Architecture & Poiesis

Today I woke up wanting to do exactly what is actually still missing (!) on the internet. Are you familiar with this almost indescribable feeling to type in a search term for which there is still NO single answer? No video, no picture, nothing. It brings up a feeling of that good old digging-for-gold mood.


Anyway: that's how glorious I feel around this new blog. Because it seems pretty rare to find a person 40+, who not only wants to study architecture for the first time but also to write about it. To me, studying in the more "advanced" stage of life offers the possibility to combine the new learning directly with life experience.


To give you an example: on vacation I am sitting on the toilet in the apartment’s bathroom and look nice and relaxed at the mountains in the distance from the large panoramic window, which is DIRECTLY to the right of me. Unfortunately, at this very moment, a complete stranger looks - also very relaxed - from the street directly into my window and therefore into the bathroom. Ergo, my relaxation is gone, my privacy too. One question immediately pops into my head: what's wrong with planning the adjacent sink right next to the window to create a more private area for the “privy”? So little planning effort for so much more quality of life!


This kind of misplanning can also be found in the modern shoebox buildings that have for years been shooting out of the ground far too close together in major cities. The list of non-practical things in residential buildings seems almost endless to me: barely usable balconies in the shady north of a house. Noisy bathroom and kitchen drain pipes of the neighboring apartment that go directly pass one's own bedroom. Wasted storage and living space due to inconveniently placed doors and walls.. Can you think of more? I look forward to hearing even more examples.


Architecture, which at the moment is a concept that still only exists in my head but hopefully one day I will help build, is in contrast quite "practical"- especially when taking into account the above experience. By the way, I don't mean aesthetic subtleties or individual preferences, which may be different for each person and which also change socially in the course of time. I mean the basic and necessary things for every s i n g l e human being who needs accomodation. At least in our hemisphere.


Practical is defined as "especially well suited to a particular purpose; very useful; expedient." Etymologically, this purpose is linked with action: doing something. On architectureJJ.com I like to understand it as "linked to living". To good living, that is, which brings me quite quickly to something that I believe I can bring to architecture and to this blog, among other things: namely at least a touch of practical philosophy. More precisely, of "poietic philosophy".


In this "Poiesis" (ancient Greek ποιέω: to make) which I to be honest got slightly lost in (which may be due to the fact that the only good "textbook" on it seems to have been written with a lottt of passion and dedication). [4] Key Fact - who invented it? The ones in Greece, of course. So at least it seems that it was Plato and Aristotle who probably wrote it down for the first time, the latter ultimately being more associated with the term.


In his philosophy, Aristotle distinguishes the "theory" (object of observation sui generis = "existence" in the broad sense), the "practice" (object of observation - roughly said everything "subjectively made by man") and the "poiesis", which represents the process of practice. Poiesis has always something to do with movement. It is the enabling of possibilities from non-being into being. I think this is beautifully phrased, but also had a "Huh? What?" on my lips when I first read it.


In terms of architecture, I have not found a better explanation anywhere and consequently I would like to start filling this research gap up - even on the small scale:


As an architect I have an idea or a possibility of a building in my head. By designing, I "discover", so to speak, my possibilities that have existed so far in non-being (they are, after all, only virtually in my head) and transfer them into "being", ergo: I design so that something is actually built.


Thinking is poiesis, designing is poiesis, and the "art of building" is also poiesis, as Aristotle explicitly notes. The distinguishing feature from the "praxis" of his philosophy is the purpose orientation: in poietic action there is always (!) a purpose present from the outside. I design and build only in order to produce an object, i.e. building, which then in turn continues to exist without my poiesis. For my architectural poiesis I need matter, nothing comes from nothing. Building materials, for example, only serve to materialize the poietic movement.


Now what does all this have to do with the practical (!) problem of the not-so-privy "privy" mentioned at the beginning? It becomes clear if I use a more appropriate expression: that of pragmatism. In this philosophical school of thought, which emerged in the 19th century, practical utility or success is the focus of human action. Pragmatic-poietic success, in the case of bathroom architecture, would thus be if the design/planning/building had been conceived in such a way as to achieve my happiness as an individual. In other words, if I could enjoy the SILENCE of a space that respects my privacy "while I’m doing my business." Practically, pragmatically or poietically, I would therefore like to close this short essay with an - albeit taken in good humour- imperative:

So for Pete’s sake, don't plan the toilet right frickin next to a humongous and very easy-to-look-into window! Thanks, JJ.

Do you agree? Looking forward to your opinion!